Interview mit Nutrition Hub über die digitale Revolution auf unseren Tellern
Foodaktivist Hendrik Haase und Wirtschaftsjournalist Olaf Deininger haben drei Jahre lang recherchiert - im Silicon Valley, an Universitäten und in der Google-Kantine. In Food Code schreiben sie über die digitale Revolution, die auf unseren Tellern angekommen ist und darüber, wie Technologie unsere Lebensmittelwelt auf den Kopf stellt. Wir haben mit den beiden Autoren vorab über die digitale Revolution, die personalisierte Ernährung und die Rolle der Ernährungsexpert*innen gesprochen.
Die digitale Revolution verändert, wie wir essen. Wie sieht ein Essen mit Freunden im Jahr 2030 aus eurer Sicht aus? Hendrik: Vollkommen hybrid: Die Vorspeise kommt wird von einer Ghostkitchen angeliefert, die an mein Lieblingsrestaurant angeschlossen ist. Die Hauptspeise koche ich selbst. Die Meldung, dass es wieder Fleisch vom Highlandrind auf meinem Lieblingshof aus der Region gibt kommt von meinem Kühlschrank oder Backofen, der auch selbst Bestellungen auslösen kann. Das saisonale Gemüse hab ich vom Wochenmarkt geholt, wegen der schönen Atmosphäre. Die Rezepte hat eine App auf Basis meiner Kochbücher und der Profile der Gäste vorgeschlagen, fehlende Zutaten bestellt sie passend zu den Sachen, die ich nach dem Wochenmarkteinkauf in den Kühlschrank gelegt habe. Den passenden Wein hat die KI des Weinschranks ausgesucht und bestellt. Am Tisch sitzen neben meinen Freunden aus Berlin noch virtuelle Gäste, die in Kopenhagen die selben Rezepte gekocht haben wie ich, weil wir unsere Küchen und Geräte vorher verbunden haben. Olaf: Damit ist die ganze Welt zu Gast und dabei. Irgendwie ein faszinierendes Gefühl mit vielen verbunden zu sein, aber auch ein beängstigendes.
Welche Technologie fasziniert euch besonders?
Hendrik: Ich kann nach der Recherche die Faszination und den Hype um selbstlernende Algorithmen nachvollziehen, die wir allerdings oft vorschnell als „Künstliche Intelligenz“ bezeichnen. Es ist schon Wahnsinn welche Potentiale darin stecken, gerade wenn es um die Bewältigungen unserer zukünftigen Herausforderungen wie dem Klimawandel liegen. Olaf: Die Verfügbarkeit meiner Arbeitsumgebung und meiner Knowledge-Base auf allen meinen Endgeräten und mein personal AI-Writer. Ein Werkzeug, das auf KI-Basis Themen für mich recherchiert und automatisch Berichte davon erstellt.
In unserem Trendreport Ernährung 2021 steht die Personalisierte Ernährung an Platz zwei der zehn wichtigsten Trends. Die Personalisierte Ernährung wird durch digitale Technologien erst richtig möglich - ist sie nur ein Trend, der in wenigen Jahren wieder vorbei sein wird?
Hendrik: Nein, immer mehr Menschen nutzen digitale Hilfsmittel, um die Lebensmittelwelt besser auf sie anzupassen. Fitnessarmbänder mit Körperfettmessungen, DNA-Analysen mit App-Anbindung, Diät-Apps auf Rezept - all das gibt es jetzt schon. Auch an den zusammenklickbaren und individualisierteren Online-Einkauf bei Lebensmitteln haben wir uns gewöhnt. Neu ist die Vernetzung von Gadgets, Apps und Datensätzen. Das ist eine enorme Weiterentwicklung und Chance, aber auch eine enorme Macht, die nicht ohne Gefahr ist. Wir haben viel Bewegung im Feld der individuellen Vitamin-Präparate gesehen. Aber auch die gemeine Lebensmittelproduktion macht dank Technologie Sprünge und kann immer kleinteiliger Wünsche befriedigen bei gleichbleibend niedrigeren Kosten.
Olaf: Auch die Industrie stellt sich darauf ein und entwickelt gerade neue und leistungsfähigere Geräte und – und vor allem – integrierte Plattform-Lösungen, ähnliche dem, wie wir es bereits von Apple und der iPhone- und iTunes-Welt kennen. Allein der Einstieg von Amazon, die populärste Marke in Mitteleuropa, zeigt, wie dort das Potenzial eingeschätzt wird. Aber auch Nestlé und Unilever sind dran. Vielfach ist uns in der Recherche aufgefallen, dass viele aber noch in ihrem Branchencontainer gefangen sind. Wir haben auch spannende Parallelen in der Tierhaltung entdeckt, die uns teilweise wie eine Blaupause für die Zukunft der menschlichen Fütterung vorkam. Wer etwas über zukünftige Ernährung der Menschen erfahren will, sollte daher auch aufmerksam unser Kapitel über die Zukunft der Tierhaltung lesen.
Was sorgt dafür, dass Personalisierte Ernährung jetzt populär wird?
Olaf: Die digitale Erreichbarkeit ist heute kein Thema mehr, wir sind "always on". Digitale Lösungen erlauben umfassende Individualisierung. Damit kann die Industrie jetzt auch Einzelanfertigungen anbieten. Das war früher nicht so. Hendrik: Viele Menschen empfinden ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle, nach einem besseren Leben und persönlichem wie beruflichen Erfolg. Das ist eines der Versprechen, die viele Fitness-Gadgets und Gesundheits-Apps abgeben. Hat diese schöne neue Welt der Algorithmen im Dienste der Gesundheit auch Schattenseiten?
Hendrik: Wie immer bieten neue Technologien Chancen und Gefahren. Bei aller Freude über Influencer*innen, die pflanzliche Nahrung und Nachhaltigkeit auf dem Teller populär machen, können algorithmisch gesteuerte Social-Media-Ströme Nutzer*innen auch in ungesunde Blasen führen. So zeigt der individuelle Instagram-Stream dann irgendwann nur noch extreme Ernährungsstile oder Fast Food Höllen tun sich auf. FoodWatch hat das erst letze Woche in ihrer #Junkfluencer Studie gezeigt. Dazu kommen problematische Lebensstile: etwa wenn der Genuss-Aspekt verschwindet, weil in bestimmten Szenen die Vorstellung immer dominanter wird, dass der Mensch eine Art Maschine ist, die nur richtig betankt werden muss. Stichwort Nutrisionism. Aus meiner Sicht ein Irrweg der Personalisierung – wie etwa die BlendRunner Community. Die Gefahr der Verlust von Genusskultur: Das Bauchgefühl zählt in einer algorithmenhörigen Gesellschaft immer weniger. Wir Autoren wünschen uns bei allem Vertrauen auf Technik auch ein Stück Verteidigung des individuellen Bauchgefühls und etwas mehr Demut vor der Komplexität unserer Lebensmittel und Esskultur.
Olaf: Wir müssen uns aber auch klar machen, dass eine immer weiter voranschreitende Personalisierung auch immer mehr Daten erzeugt. Wir müssen deshalb überlegen, wem sie gehören, wie sie transparent gemacht werden können, wie sie verarbeitet werden und wo sie gespeichert werden. Die Frage ist weiter: Wie sieht es mir der Anbindungen von Dritten aus? Versicherungen? Arbeitgeber? Steuerbehörden? Und schließlich: Sollen diese wirklich in die Hände von Techno-Monopole gelegt werden oder sollten wir in wenigen Jahren nicht darüber nachdenken, ob wir mit Daten nicht so umgehen sollten wie mit Strom und Wasser. Wir müssen diskutieren, ob wir nicht eine Art Trust-Center für unsere Daten brauchen, die vertrauenswürdig unsere Daten verwalten. Wenn so will: Die Stadtwerke für Daten.
Welche Rolle sollen Ernährungsexpert*innen in dieser Zukunft einnehmen?
Hendrik: Klar ist, dass generalisierte Ernährungspyramiden ein Ding von Vorgestern sind und die Individualisierung mit Hilfe von digitaler Technologie durchschlagend sein wird. Wir vermissen eine kritische aber sachkundige Stimme der Ernährungswissenschaft in der Debatte um unsere technologische Zukunft auf dem Teller. Dafür braucht es allerdings technologisch gebildete Ernährungswissenschaftler*innen. Wo werden diese wie geschult? Diese Ausbildung ist auch deshalb wichtig um für die Berufe der digitalisierten Zukunft gewappnet zu sein. Jobs wie Nutrition-Algorithmen-Bewerter*innen oder Health-App Berater*innen.
Olaf: Die gilt aber nicht nur für die Welt der Ernährungs-Profis. Wir kommen zu dem Schluss, das heute technologische Bildung zur Ernährungsbildung dazugehört. Das gilt nicht nur für Expert*innen sondern für jeden Esser, jede Genießerin von Lebensmitteln. Es fehlt aus unserer Sicht ein kritischer Umgang mit Algorithmen. Wir müssen verstehen, dass KI keine hundertprozentig eindeutige Ergebnisse liefert im Sinne von: Das ist gesund und das ist nicht gesund. Es sind nur Wahrscheinlichkeiten.
Auf welches 'digital-future-food' freut ihr euch?
Hendrik: Bei „Digital Future Food“ denke ich lustiger Weise gar nicht an all zu viel Verrücktes eher an altbekanntes oder bislang unentdecktes. Ich denke an alte Gemüsesorten, gutes Brot, Butter oder Gewürze an die ich und viele andere, dank Technologie, leichter herankommen werden. Deren Inhaltsstoffe sich besser erschließen, auch weil sie weniger geworden sind. Und ich denke an Produzent*innen, die dank direkter Anbindung an Kund*innen wie mich, wieder einen Markt haben. Olaf: Dem kann ich mich anschließen. Ich freue mich vor allem auf Bio-Lebensmittel, denen ich durch Blockchain vollkommen vertrauen kann oder Olivenöl von dem ich nicht Sorge haben muss, dass es mit minderwertigen Ölen gepanscht ist.
Und zum Schluss noch eine letzte Frage:
Wie glaubt ihr, dass die Entwicklung weiter geht?
Olaf: New-Cyborg wird Mainstream. Das bedeutet, dass wir unsere Körper immer stärker mit Sensoren, Rechnern und Connectivity ausstatten: am Handgelenk, aber auch im Inneren unserer Körper. Etwa über Sonden, die Verdauung überwachen oder implantierte Chips, die uns Zugang zu bestimmten Räumen oder Bereichen geben. Wir werden eine Art Personal-KI erleben: Menschen mit ihrem persönlichen Algorithmus-Assistent. Die KI wächst an den Menschen fest.
Hendrik: Die Vermessung der Verbraucher*innen schreitet voran. Wir kommen in ein Zeitalter in der Körper zunehmend vernetzt sind, sich zum „Internet of Food“ ein „Internet of Bodies“ gesellt. Wir hoffen, dass den Leser*innen von FOOD CODE am Ende klar ist, das wir zusehen müssen die Kontrolle über unsere Lebensmittel und damit unsere Ernährung zu behalten. Es liegt an uns diese neue Welt mitzugestalten. Wir Autoren sehen die digitale Essgesellschaft jedoch gerade erst am Anfang dieses Prozesses. Je mehr dabei mitmachen, desto besser!